Online-Petition
Zeichnungsende: 5.12.2023
7124 Teilnehmern sagen: WIR FÜR NORDEN
https://www.openpetition.de/petition/online/sicherstellung-der-basisnotfallversorgung-in-norden-ostfriesland
Die Petition mit 7.124 Unterschriften wurde über den Vorsitzenden des Petitionsausschusses, Herrn Rüdiger Kauroff, der Landtagspräsidentin am 26.1.24 in Hannover übergeben.
Worum es geht:
Sicherstellung der Basisnotfallversorgung in Norden/Ostfriesland
Wir bitten den Petitionsausschuss, sich dafür einzusetzen, die Notfallversorgung für die Menschen im Altkreis Norden für die Jahre bis zur Inbetriebnahme der Zentralklinik in Uthwerdum im bestehenden Krankenhaus Norden zu sichern. Um unnötiges Leid der Bevölkerung oder gar Fälle mit Todesfolge zu vermeiden, muss der Landkreis Aurich sicherstellen, dass die Versorgung in Norden mindestens so gut ist, wie der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) das zur
Basisnotfallversorgung
vorschreibt.
Begründung:
Seit dem 1. Juli 2023 ist die Ubbo Emmius Klinik in Norden kein Krankenhaus mehr. Die Trägergesellschaft der Kliniken Aurich-Emden-Norden mbH, ANEVITA, will sie mit Billigung des Landkreises Aurich gegen den einstimmigen
Willen des Stadtrates
von Norden zu einem Regionalen Gesundheitszentrum umbauen. Eine Demonstration, an der sich etwa 10% der Bevölkerung beteiligte, hat sich für den Erhalt des Norder Krankenhauses inklusive Notfallversorgung ausgesprochen. Aufgerufen dazu hatte das Aktionsbündnis Krankenhaus Norden, an dem sich u. a. Mitglieder aller Parteien beteiligten.
Von der Schließung des KH Norden sind laut dem Verband der
Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)
mehr als
51.000 Menschen
betroffen, wobei der Bedarf nach Berechnungen des Institute for Health-Care and Business HCB
bis zum Jahre 2030 um 18% gegenüber 2019 steigt. Dazu kommen noch
viele Urlauber, die jedes Jahr in Norden und Norddeich Ferien machen. Im Jahr 2022 wurden
über zwei Millionen
Übernachtungen gezählt.
Die Trägergesellschaft der Kliniken ist dabei, wichtige Einrichtungen für die Notfallversorgung abzuschaffen, die der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) für eine gute Krankenhausplanung vorschreibt (z.B. einen Schockraum, eine Intensivstation mit Beatmungsplätzen, die Chirurgie, die Innere Medizin und die Anästhesie).
Auch die Empfehlungen der
Enquete Kommission
des Niedersächsischen Landtages für eine qualitativ hochwertige und wohnortnahe medizinische stationäre Versorgung, die für die quantitative Bettenausstattung in ihrem Bericht u. a.
auf Seite 73
auf den OECD-Durchschnitt verweist, bleiben unberücksichtigt, da für den Bereich Aurich/Emden/Norden die Bettenzahl der
OECD
je 100.000 Einwohner (Ew) von 440 mit Erhalt des Norder Krankenhauses (331 Betten/100.000 Ew) um rund 25% unterschritten wird, bei Wegfall der Norder Betten (279 Betten/100.000 Ew) gar um 37%. Die Türkei z. B. schneidet mit 290 Betten/100.000 Ew besser ab. Zum Vergleich: Das Land Niedersachsen weist
511 Betten je 100.000 Einwohner
im Jahr 2021 auf!
Wer übernimmt die Verantwortung für Tausende von Notfallpatienten für die Jahre bis zur Inbetriebnahme der Zentralklinik?
Die geplante Zentralklinik ist noch lange nicht fertig.
Sie existiert bisher nur als Plan. Bis sie eröffnet wird, dürfte es noch mindestens 5 – 6 Jahre dauern. Der Landkreis Aurich will zwar den Rettungsdienst ausbauen, aber das reicht nicht aus, um die Menschen im Notfall intensivmedizinisch zu versorgen. Das Regionale Gesundheitszentrum kann das ebenfalls nicht leisten.
Eine gut funktionierende, derzeit nicht mehr gegebene Notfall- und Akutversorgung in Norden ist von wesentlicher Bedeutung für die Gesundheitsversorgung. Für Menschen in lebensbedrohlichen Situationen sowie Patientinnen und Patienten mit einem notwendigen Behandlungsbedarf in Norden war sie die erste Anlaufstelle im Gesundheitssystem, die schnell wiederhergestellt werden muss. Nach Angaben der Trägergesellschaft gab es 2022 rund
13.000 Kontakte
in der Notaufnahme des Krankenhauses Norden.
Davon wurden nach Angaben der Trägergesellschaft 40% aufgenommen, womit es sich im Jahre 2022 um 5200 Notfälle mit stationärem Bedarf handelte. Hochgerechnet sind das bis zur Inbetriebnahme der Zentralklinik in fünf Jahren etwa 26.000 Notfälle in Norden. Wer übernimmt die Verantwortung für diejenigen Fälle mit schwerem Verlauf, die im RGZ tatsächlich oder wegen der einschränkten Öffnungszeiten nicht stabilisiert werden können oder die im Rettungswagen wegen
oft gleichzeitig abgemeldeter Intensivstationen in Aurich und Emden
weiter entfernte Kliniken nicht rechtzeitig erreichen können oder die künftig nur deshalb nicht ins Krankenhaus fahren, weil Aurich und Emden für sie wegen eines fehlenden Pkw oder zu hoher Taxikosten zu weit entfernt ist? Die Notfallversorgung im Landkreis Aurich ist schon seit längerem unzureichend, was von der örtlichen Presse wiederholt nachgewiesen wurde. Zuletzt machten
Mitarbeiter des Rettungsdienstes
öffentlich darauf aufmerksam, was den Träger offenbar nicht anficht, da der Mangel nicht abgestellt und die Verantwortung den Ärzten aufgebürdet wird, die in ihrer Not zur
Triage
gezwungen werden!
Fehlendes Personal vorsätzlich herbeigeführt
Die Trägergesellschaft begründet die Schließung im Wesentlichen mit fehlenden medizinischen Fachkräften, insbesondere Assistenzärzten, so dass die notwendigen Stellen nicht oder nur mit teuren Honorarkräften besetzt werden können. Diese Begründung ist nicht stichhaltig, da der Krankenhausträger die ausbleibenden Bewerbungen von Assistenzärzten vorsätzlich herbeigeführt hat. Warnungen zum Trotz wurden bereits im Jahre 2020 durch die Versetzung eines Arztes mit voller Weiterbildungsermächtigung von Norden in die Klinik Aurich die Voraussetzungen für die Ausbildung von Fachärzten im Krankenhaus Norden faktisch aufgehoben, weil der ermächtigte Arzt verpflichtet ist, die Weiterbildung persönlich und
grundsätzlich ganztägig zu leiten
sowie inhaltlich und zeitlich entsprechend §6 (4) der Weiterbildungsordnung der Ärztekammer Niedersachsen zu gestalten. Die Folge ist, dass sich keine Assistenzärzte mehr nach Norden bewerben. Offenbar gibt es aber genügend Ärzte, sonst würden diese nicht als Honorarkräfte von Leiharbeitsfirmen bezogen werden können. Weiterbildungsmöglichkeiten zum Facharzt, die allgemeine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und mehr Wertschätzung aller Beschäftigten durch die Trägergesellschaft als Arbeitgeber würden die Fluktuation verringern und die Bewerbungslage sowohl bei den Ärzten als auch bei den Pflegekräften verbessern. Umliegende Kliniken in Leer, Wittmund und Westerstede machen erfolgreich vor, wie das geht.
Zu weite Entfernungen zum nächsten OP-Saal
Entgegenzutreten ist auch den Ausführungen des Sozialministers Dr. Phillipi während der 17. Sitzung des niedersächsischen Landtags am 22.6.2023, dass die Fahrzeit nach Aurich laut Google nur 30 Minuten betrage und die Kliniken in Aurich und Emden für
schwerere Fälle aus Norden rund um die Uhr zur Verfügung
ständen. Der Kliniksimulator der GKV, welcher als Grundlage für den Grenzwert des G-BA dient, weist für die Schließung der Klinik Norden für
mehr als 51.000 Einwohner
eine durchschnittliche Fahrzeit länger als 30 PKW-Minuten zum nächsten Grundversorger auf; für die Bewohner der Küstengebiete sogar mehr als 40 PKW-Minuten. Tatsächlich sind oft durch Baustellen, Ampeln, Straßenunfälle, Verkehrsspitzen während der Rush-Hour und Ferienzeiten, langsam fahrende Traktoren realistische Fahrzeiten von Norden nach Aurich mit knapp einer Stunde Fahrzeit zu kalkulieren.
Spekulationen des Ministers in seiner Rede darüber, dass "ein RTW keine Blitzer beachten müsse und daher schneller am Ziel sei", machen die Unkenntnis über die Notfallversorgung deutlich:
ein Rettungswagen kann grundsätzlich bei weitem nicht mit der Maximalgeschwindigkeit gefahren werden, auf der Trage liegt ein kranker Mensch. Eine Alarmfahrt mit hoher Geschwindigkeit und Notbremsungen – die bei hoher Geschwindigkeit öfter vorkommen, weil nicht jeder Verkehrsteilnehmer rechtzeitig den herannahenden Rettungswagen wahrnimmt – sind für den Patienten und das Personal körperlich und auch psychisch sehr belastend. Deshalb muss insbesondere auch bei Verdacht auf Knochenbrüche oder bei Herzkreislauf-Erkrankungen trotz Alarm schonend transportiert werden. Außerdem kann es während des Transportes nötig sein, dass Rettungsdienstpersonal im Rettungswagen aufstehen muss, um Kontrollmessungen oder Behandlungen durchzuführen. Das Personal ist bei Tätigkeiten im Stehen nicht angeschnallt.
Intensivstationen und RTW überlastet
Die Versorgung der schweren Notfälle aus dem Altkreis Norden in den Kliniken Emden und Aurich ist überdies nicht gewährleistet. So kommt es auf dem Portal IVENA wegen unzureichender Kapazitäten in Aurich und Emden oft zur Abmeldung der Intensivstationen dieser Krankenhäuser. IVENA ist für die Rettungsdienste die Planungsgrundlage für ihre Anfahrten. Hierüber berichtete bereits mehrfach der Reporter Andreas Ellinger in der Ostfriesen-Zeitung. RTW Fahrten aus dem Landkreis in sehr viel weiter entfernte Kliniken (z. B. Leer, Westerstede, Oldenburg, Delmenhorst, Bremen, Löningen) werden von Patienten häufig beschrieben. Ein Mangel an Intensivbetten im Landkreis ist bereits länger Gegenstand von Diskussionen. Ostfriesland gehört zu den Regionen mit
vermeidbarer Übersterblichkeit
der Bevölkerung in Deutschland.
Die Kapazitäten des Rettungsdienstes in Ostfriesland sind laut Recherchen der Ostfriesen-Zeitung
seit mindestens 1,5 Jahren knapp bis nicht ausreichend, so dass die vorgeschriebene Hilfsfrist in manchen Fällen nicht eingehalten werden kann. Öffentlich ist jüngst von den Ostfriesischen Nachrichten ein Fall berichtet worden, nach dem die Patientin und ihre Hausärztin
70 Minuten auf den Rettungswagen warten
musste. Und die Ostfriesen-Zeitung hat bei den Gesetzlichen Krankenkassen recherchiert, dass entgegen den Ankündigungen der Kreisverwaltung Aurich
weder die Rettungsdienstkapazitäten erhöht wurden noch Planungen dafür vorgesehen sind.
Durch die Aufgabe der intensivmedizinischen Versorgung des Krankenhauses Norden besteht eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, dass es hierdurch zu Todesfällen durch die wegfallende Basis-Notfallversorgung des Krankenhauses kommen dürfte. Weder ein RGZ noch der Rettungsdienst kann eine intensivmedizinische Versorgung ersetzen. Das Verfassungsgebot zum Herstellen gleichwertiger Lebensverhältnisse wird somit für die Küstenregion um Norden in der Gesundheitsversorgung ins Gegenteil verkehrt.
Rettungsdienst kann Basis-Notfallversorgung im Krankenhaus nicht ersetzen
Die Aussage des Ministers, man werde daher die Anzahl der Rettungswagen erhöhen, geht fehl. Zunächst einmal ist es banale Realität, dass Rettungsdienst und Krankenhäuser zwei völlig unterschiedliche Organisationen mit unterschiedlichen Aufgaben sind. Bundesweit gibt es beides flächendeckend, Krankenhäuser und Rettungsdienst – nirgends übernimmt die eine Struktur die Aufgabe der anderen. Überdies können auch weitere Rettungswagen ein schnell erreichbares Krankenhaus mit Intensivstation grundsätzlich nicht ersetzen. Operationen sowie jegliche sterilen Eingriffe, die einen Patienten lebensrettend stabilisieren könnten, können im Rettungswagen nicht durchgeführt werden:
Realistische Notfallszenarien
Lebensrettend stabilisierende Eingriffe sind beispielsweise:
a)
das sterile Legen arterieller Zugänge zur kontinuierlichen Blutdruckmessung. Dies ist insbesondere bei kreislaufinstabilen Patienten wichtig, da die "normale" Blutdruckmessung nach Riva Rocci ein ständiges Aufpumpen einer Manschette erfordert und zwischen den einzelnen Messungen mindestens 5 Minuten liegen sollten, um unverfälschte Werte zu erhalten. Bei kreislaufinstabilen Patienten sollte ein Blutdruckabfall sofort feststellbar sein und nicht erst nach 5 Minuten, um lebensrettende Maßnahmen wie z. B. die Gabe von Katecholaminen oder Medikamenten zur Herzrhythmusstabilisierung rechtzeitig einleiten zu können.
b)
das sterile Legen von zentralen Venenkathetern (ZVK) zur Gabe von Katecholaminen bei Reanimationen, Schockzuständen und schweren allergischen Reaktionen. Katecholamine führen z. T. zu einer Verengung peripherer Blutgefäße. Ein peripherer Venenzugang würde hierdurch möglicherweise zugehen und wäre dann unbenutzbar. Ein zentraler Venenkatheter ist großlumig genug, um auch wiederholte und höherdosierte Katecholamingaben zu ermöglichen.
c)
operative Gefäßnähte bei starken inneren Blutungen. Manche arterielle Blutungsquellen liegen derart ungünstig (z. B. Bauchraum, Hals, Kopf usw.), dass sie ohne operative Eröffnung nicht zugänglich sind und somit auch keine Blutstillung (z. B. Druckkompresse) bis zum Eintreffen im OP erfolgen kann. Bei einer Fahrzeit von mehr als 30 Minuten wäre der Patient bis zum Eintreffen im KH verblutet.
d)
eine operative Druckentlastung bei starken intrakraniellen Blutungen (z. B. unter Blutverdünnungsmedikamenten wie Marcumar). Bei intrakraniellen Blutungen führt der zunehmende Druck der Blutung auf das Gehirn zum Absterben lebenswichtiger Zentren. Gehirngewebe wächst nicht nach. Der Patient würde ohne zeitnahen operativen Dekompressionseingriff bei stark erhöhtem intrakraniellen Druck voraussichtlich schwere Behinderungen auf einer langen Anfahrt ins Krankenhaus erleiden und wäre schlimmstenfalls bei Ankunft tot.
Seit dem Wegfallen der Basis-Notfallversorgung der UEK Norden wird dort auch keine 24/7-Notfallradiologie mehr vorgehalten, was die Diagnostik einer intrakraniellen Blutung erst in Aurich oder Emden ermöglicht. Hierdurch geht zusätzlich wichtige Zeit für den Patienten verloren, welche andernfalls in die Operationsvorbereitung und Einbestellung eines geeigneten Chirurgen für den Eingriff geflossen wäre.
Allgemeine Unfallchirurgen lernen zwar lebensrettende, neurochirurgische Standardnotfalleingriffe, mitunter kann jedoch das schnelle Hinzuziehen eines spezialisierten Neurochirurgen zur Operation notwendig werden. Weder das HSK Emden noch die UEK Aurich betreiben eine eigene Neurochirurgische Abteilung. In Emden gibt es lediglich eine neurochirurgische Praxis mit Belegbetten im KH. Eine ständige neurochirurgische Notfallverfügbarkeit ist daher an diesen Standorten nicht gegeben. Schlimmstenfalls liegt eine komplizierte intrakranielle Blutung vor, der notwendige Neurochirurg kann erst nach radiologischer Diagnostik in Emden/Aurich verständigt und eingeflogen werden und alle Intensivbetten in Aurich und Emden sind belegt, wie es in den vergangenen Wochen in diesen beiden Kliniken nach Informationslage des Intensivbettmonitorings und
der regionalen Presse sehr häufig der Fall
war. Der fatale Ausgang für den betroffenen Patienten wäre dadurch nahezu vorprogrammiert.
e)
das Vorhalten geeigneter Blutkonserven zur stabilisierenden Gabe bei starkem Blutverlust. Blutkonserven können aufgrund der ständigen Erschütterungen im regulären RTW nicht gelagert werden. Sollten Blutkonserven zur Stabilisierung notwendig werden, könnte das Fehlen derselbigen eine vitale Gefährdung des Patienten darstellen.
f)
Möglichkeiten zur Notfallendoskopie in der inneren Medizin z.B. bei Intoxikationen oder Verschlucken gefährlicher Gegenstände (z. B. Batterien) oder Flüssigkeiten in suizidaler Absicht. Der Träger will die Psychiatrie mit Akutpsychiatrie am Standort erhalten. Suizidale Tendenzen sind bei akutpsychiatrischen Patienten häufig zu beobachten. Mit Wegfall notfallendoskopischer Methoden der inneren Medizin könnten z. B. eine Überdosis Tabletten oder eine ätzende Säure (z. B. durch suizidales Trinken von Reinigungsmitteln oder sich auflösende Batterien) entsprechend lange zersetzend auf die inneren Organe des Patienten einwirken. Der Notarzt wäre dadurch nahezu gezwungen auf der Fahrt zum nächsten KH dem sehr quälenden Prozess der Zersetzung der inneren Organe des Patienten zuzusehen, ohne wirklich helfend eingreifen zu können.
Dies ist eine Auswahl an Notfallszenarien, welche durch Wegfall der Basisnotfallversorgung zum Tod oder zur schweren Behinderung von Patienten führen können. Zwar gibt es sogenannte Spezial-RTW, die besser ausgestattet sind als die "normalen", z. B. RTW Stroke-Mobil, RTW-Intensivtransportfahrzeug, Schwerlast-Transportfahrzeug, usw. Diese ersetzen jedoch nicht das interdisziplinäre Krankenhaus. Beschaffung dieser bedeutet: Fahrzeuge haben eine lange Vorbestellungsfrist und sind teurer, als die Ersatzplanungen es vorsehen. Durch die längeren Transportzeiten des RTW von Norden in die Peripherie sind erschwerend auch die dortigen Notärzte und Rettungsdienstler länger gebunden und können erst nach Rückkehr in Norden wieder eingesetzt werden. Dies führt zur zusätzlichen Verknappung an Notfallhelfern. Teilweise war es deswegen zumindest zwischen Emden und Norden üblich, dass Notärzte die Patienten in Georgsheil (ca. geographische Mitte zwischen beiden Städten) auf einem Parkplatz übergeben haben. Dies war auf der Intensivstation in Emden allgemein bekannt und wurde laut Aussage damals dort tätiger Notärzte etliche Male so gehandhabt. Durch die Notarztverknappung müssten nun weitere Notärzte der Notarztbörse als Honorarärzte gemietet werden. Diese kennen jedoch den Landkreis nicht, sprechen meist kein Platt, sind weder ortskundig und mitunter nicht an die medizinischen Geräte im fremden RTW eingewiesen.
Kleinere Notfälle können sich auswachsen
Auch bei kleineren Notfällen ist der Wegfall des Krankenhaus-Grundversorgers in Norden für die Bevölkerung deutlich negativ spürbar. Regelmäßig vorkommende Beispiele für „kleine Notfälle", die jedoch auch wichtig sind:
a)
Schnittwunde beim Grillen am Abend oder bei der Gartenarbeit am Samstag, wenn also keine chirurgische Praxis geöffnet ist. Das ist kein Fall für den Rettungsdienst. Aufgrund der eingeschränkten Öffnungszeiten des RGZ in Norden kann die Wunde dort nicht mehr genäht werden. Für den Transport nicht bedrohlicher Notfälle ist der Rettungsdienst nicht zuständig. Ein Taxi nach Aurich oder Emden kostet inclusive Rückfahrt von Norden aus mindestens 150,-€. Dieses Geld hat nicht jeder Mitbürger einfach so in der Geldbörse. Bei ambulanten Behandlungen übernehmen die Krankenkassen diese Kosten regelmäßig nicht (nur ab Pflegegrad 3 bzw. Behindertenausweis mit Merkzeichen aG, H oder Bl, das ist bei der überwiegenden Mehrzahl der Patienten nicht der Fall).
b)
Ein Bewohner eines der vielen Heime in Norden und Umgebung stürzt abends aus dem Bett – die nächste Gelegenheit für ein Röntgen und Ausschluss oder Bestätigung eines Knochenbruches wird dann voraussichtlich in Aurich oder Emden sein.
c)
Tourist stürzt im Hafen in Norddeich, hat eine Schwellung am Handgelenk – auch für ihn wird bei Streichung der Grundversorgung in Norden gelten: Röntgen und ggf. Behandlung voraussichtlich nicht näher als in Emden oder Aurich, zumindest außerhalb der Praxisöffnungszeiten.
Notfälle oft nicht sofort erkennbar
Oft ist es schwer, einen Notfall als solchen zu erkennen. Bei unklaren Symptomen ist eine kompetente, niederschwellige und ortsnahe Abklärung unbedingt nötig.
Also ein 24-stündig geöffnetes Krankenhaus mit Grundversorgung vor Ort.
Oft ist weder dem Patienten noch Angehörigen oder dem Rettungsdienst klar, welche Erkrankung ein Mensch mit Beschwerden letztlich hat. Diese müssen zunächst diagnostisch eingeordnet werden. In vielen Fällen kann der Rettungsdienst oder ein Notarzt nicht definitiv vor Ort ohne weitere Diagnostik eines KH ein Beschwerdebild klären. Nach Einlieferung stundenlang in der Aufnahme zu sitzen und hinterher auf den Taxikosten der Rückfahrt sitzenzubleiben, dürfte in Zukunft regelmäßig Mitbürger aus der Umgegend von Norden davon abhalten, unklare, aber potenziell lebensbedrohliche Beschwerden orts- und zeitnah kompetent abklären zu lassen.
Die Trägergesellschaft der Kliniken Emden, Aurich und Norden agiert seit langem hinsichtlich ihrer Pläne und Maßnahmen
intransparent für die Bevölkerung, die niedergelassenen Ärzte und weitere Akteure des Gesundheitswesens. Daher ist unverständlich, wieso das Sozialministerium sich in wesentlichen Punkten ausschließlich auf die Aussagen der Trägergesellschaft stützt und nicht eigene Zustandsermittlungen vornimmt, beispielsweise durch Einschaltung der Kommunalaufsicht.
Ärzteverein kritisiert Klinikschließung scharf
Die Ärzte aus dem Einzugsbereich des Krankenhauses Norden beklagen, dass sie offiziell bis heute nicht über die Änderungen in der Versorgung durch das Norder Krankenhaus oder den Landkreis informiert wurden.
Der Aufsichtsrat der Trägergesellschaft hatte Mitte April 2023 seine Kompetenz überschreitend beschlossen, das Krankenhaus zum 1.7.2023 zu schließen. Hausärzte, Kassenärztliche Vereinigung, niedergelassene Fachärzte, Ärzteverein und viele kommunale Akteure im Gesundheitswesen haben hiervon erst aus der Presse erfahren. Darüber hinaus kritisiert der Ärzteverein des Altkreises Norden in der Presse: "Das Krankenhaus Norden war früher gut aufgestellt. Sukzessive hat man es erstickt - vom leistungsfähigsten Klinikum zu dem Zustand jetzt."
Auf der Insel Norderney wird die vorzeitige Schließung der somatischen Abteilungen in Norden
ebenfalls kritisch gesehen.
Fragwürdige Berechnungsmethoden der Trägergesellschaft
In diesem Zusammenhang ist grundsätzlich fraglich, auf welcher Berechnungsgrundlage, die von der Trägergesellschaft für das Jahr 2023 behaupteten "12 Mio Euro negatives Jahresergebnis allein durch das Krankenhaus Norden" beruhen. Im Jahre 2021 betrug der Jahresfehlbetrag in der Gewinn- und Verlustrechnung für die Kliniken in Aurich und Norden zusammen rund 5 Mio Euro.
Nicht durch Eigenkapital gedeckt waren es in der Bilanz 2021 nur 1.8 Mio Euro. Die Bilanzen der einzelnen Kliniken werden seit einigen Jahren nicht mehr nach getrennten Standorten Aurich und Norden ausgewiesen, so dass seitdem eine Überprüfung der Zahlen im Nachhinein von außen ausgeschlossen ist. Die Hochrechnungen der Trägergesellschaft für das laufende Jahr unterstellen eine "Halbierung der Patientenzahlen im Vergleich zu 2018 mit nur 10 somatischen Patienten pro Tag". Im Jahre 2021 waren es mehr als doppelt so viele. Das behauptete Defizit dürfte denn auch spekulativ und zweckgerichtet sein, da die Trägergesellschaft im Jahr 2023 in ihrem
Qualitätsbericht an den G-BA 2021
des Krankenhauses für das Jahr 2021 des Krankenhauses Norden eine
vollstationäre Fallzahl von 6491 ausgewiesen
hat.
Paradox scheint rückblickend auch die Argumentation der Trägergesellschaft, in der Corona-Pandemie die intensivmedizinische Versorgung im Landkreis stärken zu wollen. Hierzu wurde mit den Fördergeldern des Bundes in Höhe von 50.000 Euro für jedes neue Intensivbett ein ursprünglich psychiatrisch genutzter Teilbereich des Krankenhauses Norden zur Intensivstation umgewandelt. Trotz nachweislich anhaltender Kapazitätsprobleme bei der intensivmedizinischen Versorgung der Bevölkerung in den Landkreisen Aurich und Leer wurden diese Intensivbetten kurze Zeit später wieder abgeschafft.